Als ich mich vor rund 4 Wochen für dieses Thema entschied, gab es noch nicht die unrühmlichen Vorgänge von Heidenau oder die zahllosen Brände in Unterkünften. Auch die Situation in Ungarn und die wiederum sehr herzliche Begrüßung der Flüchtlinge am letzten Wochenende waren noch Zukunft. Dies zeigt, wie schnelllebig aber auch dramatisch momentan alles abläuft. Dennoch der Versuch, über das Aktuelle und die Tagespolitik hinaus meine Sicht der Dinge darzulegen: Egal ob aus Krieg und Verfolgung oder wegen Armut und Perspektivlosigkeit, es kommen in großer Zahl Menschen zu uns nach Europa, viele wollen sogar ganz gezielt nach Deutschland. Ich will die großen Probleme, die uns daraus entstehen und die Ängste, die bei Vielen dadurch aufkommen, nicht klein reden. Trotzdem schlage ich zuerst mal vor, dass wir uns bei diesem Andrang auch ein bischen geehrt fühlen. Offenbar haben wir was, was andere nicht haben. Man könnte vom Balkan auch in Richtung Russland oder Türkei fliehen, oder von Afrika nach Arabien. Vom Mittleren Osten könnten China und Indien Ziele sein. Aber sie wollen zu uns, weil bei uns seit Jahrzehnten stabiler Frieden und Wohlstand herrschen, dazu Demokratie und Rechtsstaat sowie ein vergleichsweise gutes Sozialsystem. Hand aufs Herz, ist das nicht nachvollziehbar? Die weltpolitische Situation – über die aktuellen Krisen und Kriege hinaus: Bevor wir nun über Kosten und Gefahren, über Schwierigkeiten der Integration und viele andere Punkte diskutieren, will ich ein paar Thesen aufstellen: – Nach mehr als 2.000 Jahren ist das Ende der Europäisch-/ Nordamerikanischen Hegemonie absehbar. Dies liegt vor allem an der Bevölkerungsentwicklung, die im Gesamten immer noch in rasantem Tempo nach oben geht. Seit 2011 sind wir 7 Mrd., bis 2050 rund 10 Mrd. Europa ist dabei der einzige Erdteil, dem Bevölkerungsrückgang prognostiziert wird. – Wir werden nicht nur weniger, sondern auch älter. Deshalb ist der demografische Wandel eines unserer ganz großen Themen auf allen politischen Ebenen. Dies wird längst konkret, wenn wir in vielen Branchen Fachkräftemangel beklagen oder die Schließung von Dorfschulen und innerörtlichen Einkaufsläden, von Geburtshilfestationen oder Hausarztpraxen hinnehmen müssen. – Die Kluft zwischen arm und reich wird unvermindert größer. Das von uns bisher dominierte Weltwirtschaftssystem trägt dafür zumindest einen guten Teil der Verantwortung. Unser Wohlstand ist eben bis heute auch ein Ergebnis davon, dass wir seit Jahrhunderten billig Rohstoffe beziehen und Waren im Gegenzug teuer exportieren. – Die noch immer nicht ausgestandene Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2008 hat gezeigt, dass unsere Exportorientierte Wirtschaft sehr schnell ins Wanken geraten kann, wenn die Welt um uns herum aus den Fugen gerät. Eine Region, die seit Jahrzehnten von der Auto- Industrie lebt, spürt das besonders stark. – Trotz aller unbestreitbaren Unzulänglichkeiten haben wir Europäer vergleichsweise hohe Sozial- und Umwelt- Standards und sind weltpolitisch zumindest Vorreiter in Sachen Klimaschutz und Entwicklungshilfe. Aus meiner Sicht sind dies mittelfristig die wichtigsten globalen Aufgaben. Vor diesem Hintergrund wäre es – ganz unbescheiden – wichtig, dass Europa und im europäischen Rahmen Deutschland weiterhin Verantwortung übernehmen und großen Einfluss auf das Weltgeschehen behalten, sicher auch zu unserem eigenen Vorteil. Deshalb meine Überzeugung, dass die vielen Flüchtlinge zwar kurzfristig eine riesige Herausforderung sind, aber langfristig eine noch größere Chance sein können, nämlich dann, wenn es uns gelingt: – einen Teil der Flüchtlinge zu integrieren und damit den demografischen Wandel zu entschärfen. – viele andere Flüchtlinge gut zu versorgen und auf eine Rückkehr nach Beruhigung der Lage in den Heimatländern gut vorzubereiten. – unsere europäischen Nachbarn durch praktisches Beispiel zu überzeugen, dass Flüchtlingshilfe machbar ist und Solidarität stark macht. – unser Ansehen und Einfluss in der Welt damit zu steigern. Deshalb mein Plädoyer in 9 Punkten: 1. Wir sind so reich und technisch ausgestattet, wie nie zuvor. Deshalb sollten wir uns nicht zu früh einreden lassen, dass wir „am Limit“ sind. Selbst wenn – was bisher im Kreis Calw ausdrücklich nicht geplant ist – hie und da Sporthallen belegt werden, muss das meines Erachtens möglich sein. Im Übrigen ist bis jetzt die Anzahl der Flüchtlinge der Jahre 1992/93 noch nicht erreicht. 2. Im aktuellen europäischen Vergleich gehen wir Deutschen sehr gut mit den Flüchtlingen um. Darauf dürfen wir uns nicht ausruhen, aber darauf können wir aufbauen. Deshalb schießen Thesen von „totalem Versagen“ der Regierungen und Behörden deutlich übers Ziel hinaus. Ich meine die vielen Helferinnen und Helfer vor Ort, die Gemeinde- und Kreisverwaltungen, aber auch Behörden und Regierungen in Bund und Land tun weitgehend alles Mögliche und verdienen grundsätzlich ein Lob. 3. Dass diese vielen Menschen bei manch einem Ängste auslösen, ist nachvollziehbar. Darüber muss man reden dürfen. Umso entschiedener müssen wir jedoch als ganze Gesellschaft den Rechtsextremen und Gewalttätern klar und unmissverständlich die Rote Karte zeigen. 4. Was wie viel am Ende kostet, ist in der Gesamtschau ohnehin sehr schwierig. Man denke an die Milliardenentlastung des Bundeshaushalts, weil uns im Zuge der Griechenlandkrise die Banken seit Jahren Zinslose Darlehen gewähren. Deshalb halte ich das Gezerre um die Finanzierung der direkten Flüchtlingskosten für weniger bedeutend, weil dem ja auch wieder Umsätze und Steuereinnahmen gegenüberstehen. Angesichts der langfristigen Chancen dieser Flüchtlingskrise plädiere ich im wahrsten Sinne des Wortes für „Großzügigkeit“. 5. Dass in Ba-Wü wegen „Grünen Gutmenschentums“ weniger abgeschoben wird als in anderen Bundesländern, ist eine falsche Behauptung. Geltendes Recht wird umgesetzt, aktuelle Zahlen vom August belegen dies. Abschiebungen sind aber in jedem Fall hart, dazu kommen jede Menge juristischer Hürden, die es auch zurecht gibt. Deshalb plädiere ich auch da – neben dem Umsetzen des geltenden Rechts – im Zweifelsfall für „Großzügigkeit“. 6. Wir werden jedoch nicht umhinkommen, Kriegsflüchtlinge und Armutszuwanderer unterschiedlich zu behandeln. Dies ist keine einfache Frage, über deren Details intensiv gestritten werden muss. Aber ich rufe alle Beteiligten dazu auf, sachlich zu bleiben und am Ende Kompromissbereit zu sein. Ich bin auch deshalb mit Leib und Seele bei den Grünen, weil wir solche schwierigen Debatten besonders offen führen, wie z. B. auch die Frage von Militäreinsätzen. Die folgenden Punkte wirken nur mittelfristig, sind aber nicht minder wichtig: 7. Wir sind ein Einwanderungsland, die Realität beweist es und der demografische Wandel ruft danach. Deshalb brauchen wir ein Einwanderungsgesetz, um Asylrecht und allgemeine Migration zu trennen. 8. Die Entwicklungshilfe für die Heimatländer unserer Flüchtlinge muss deutlich gesteigert werden. Ich könnte mir vorstellen, eine Ausbildung von Flüchtlingen und Hilfsprogramme, mit denen diese in ihre Heimat zurückkehren, vertraglich und institutionell zu koppeln. 9. Krisenherde wie Syrien zu beruhigen, wird sehr schwierig sein. Mehr Restriktionen bei Waffenexporten und weniger Waffen- Lobby sind jedoch unabdingbar, wenn wir baldmöglichst Frieden und Wiederaufbau erreichen wollen. Soweit für heute , das nächste Mal aller Voraussicht nach heute in 2 Wochen mit meiner Meinung zu „Landwirtschaft, Lebensmittel und Ernährung“. Freundliche Grüße von Johannes „Joe“ Schwarz |
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