„Zurück zur Sache“ – warum ich gegen Stuttgart21 bin (5. Oktober 2010)

Liebe Freunde, Bekannte und Verwandte,

wen Stuttgart21 oder zumindest meine Haltung dazu nicht interessiert, möge die Störung entschuldigen und einfach wegklicken.

Nach einem Wochenende mit unzähligen Diskussionen habe ich den Eindruck, dass Stuttgart21 fast alle beschäftigt. Weil es so schwer ist, das komplexe Thema sachlich zu ergründen und dabei die durch gegenseitiges Misstrauen entstandenen Emotionen im Zaum zu halten, habe ich hier eine schriftliche Begründung erstellt, warum ich gegen Stuttgart21 bin und warum ich es für dringend notwendig halte, einen vorläufigen Stopp von Bau- und Vergabemaßnahmen (die gesamten Tunnelröhren sind noch nicht beauftragt!!!)  zu beschließen.

  1. Stuttgart21 birgt verkehrspolitisch erhebliche Zweifel. Ich bin kein Bahnexperte, aber ich habe mich in letzter Zeit etwas näher mit dem Thema befasst und viele Kritikpunkte am Konzept Stuttgart21 leuchten einfach ein. Dazu 3 Detailpunkte:
  2. Tatsache ist, der heutige Stuttgarter Kopfbahnhof funktioniert sehr gut und gilt als weltweit beachtetes Musterbeispiel, weil er über besonders ausgeklügelte „Tunnelgebirge“ kreuzungsfreie Ein- und Ausfahrten gewährleistet.  Er gilt als der pünktlichste Bahnhof unter allen Großstädten in Deutschland.
  3. Langfristig mehr Menschen und Güter auf die Schiene zu bringen, ist nicht nur wegen des Klimaschutzes unabdingbar. Klar ist, dass dies durch kürzere Gesamtfahrzeiten erreicht werden muss. Der größte Hebel dabei sind die Umsteigezeiten, weshalb der sogenannte „Integrierte Taktfahrplan“ unter den Verkehrsexperten ein Maßstab/Zielpunkt ist. Dabei ist das traditionelle Bahnland Schweiz Vorbild. Dieser funktioniert nur, wenn Züge gegebenenfalls aufeinander warten können, was in einem Kopfbahnhof eindeutig leichter ist, weil die Reihenfolge der Abfahrten leichter geändert werden kann.
  4. Die vom Land Baden- Württemberg in Auftrag gegebene Studie, die laut beigefügtem „STERN“- Artikel vom Juli 2010 unveröffentlicht bleiben sollte, wird wie so oft unterschiedlich bewertet. Auch dies kann ich im Detail nicht überprüfen, aber klar ist zumindest, die großen versprochenen Vorteile von S21 werden durch diese Studie in keinster Weise bestätigt. Zudem fragt man sich schon, warum so eine Studie offenbar im Stuttgarter Innenministerium geheimgehalten wurde, oder warum – wenn alles ganz anders wäre – der „STERN“ für diesen Artikel nicht längst rechtlich belangt wird.
  • Die offiziellen Kosten sind nach meinem Empfinden sehr fragwürdig, aus folgenden Gründen:
  • Bis Frühjahr 2009 ging man offiziell von 2,5 Mrd (ohne Neubaustrecke nach Ulm) aus. Dann wurde auf 3,1 Mrd erhöht. Mit dem Amtsantritt von H. Grube wurde versprochen, noch einmal neu zu rechnen. Vor der Veröffentlichung dieser neuen Zahlen wurde von den politisch Verantwortlichen – nicht von den Projektgegnern – die „Schallmauer“ von 4,5 Mrd gesetzt. Heute ist öffentlich (siehe beigefügten Auszug aus einem vom Umweltbundesamt beauftragten Gutachten vom August 2010), dass bei der Bahn zunächst 4,9 Mrd. errechnet wurden, dann aber unter der vagen Begründung technischer Vereinfachungen im Dezember 2009    nur 4,1 Mrd. als Baukosten benannt wurden. Die Begründung liegt auf der Hand:  die Finanzierungsvereinbarung vom April 2009 sieht eine Ausstiegsklausel für die einzelnen Projektpartner bei Kosten von mehr als 4,5 Mrd. vor. Der 2. „STERN“- Artikel vom 29. September 2010 mag etwas übertrieben sein, aber wenn davon nur die Hälfte stimmt, dann ist die These von den künstlich niedriggehaltenen Kosten deutlich bestätigt.
  • Dass einige andere Gutachter Kosten zwischen 7 und 9 Mrd errechnet haben, will ich nicht als Argument anbringen, weil vermutlich von den Gegnern in Auftrag gegeben. Aber  dass auch der Bundesrechnungshof bereits 2008 mind. 5,3 Mrd. errechnet hat (ohne Risikozuschläge), finde ich schwerwiegender.
  • FAZIT  Verkehrspolitik und Kosten:  Stuttgart 21 ist zu teuer und bringt schienentechnisch zu wenig. Im Kreistag wurde ich in den vergangenen Jahren regelmäßig mit (volkswirtschaftlichen) Kosten- Nutzen- Berechnungen der geplanten Bahnlinien Calw- Weil der Stadt  sowie Nagold- Herrenberg konfrontiert. Nur wenn der Nutzen- Kosten- Faktor über 1,0 liegt, ist grundsätzlich eine Förderung durch Bund und Land denkbar – eigentlich logisch. Mit der S- Bahn- Variante zwischen Calw und Weil der Stadt läge man z. B. nach derzeitigem Stand bei einem Nutzen- Kosten- Faktor von 2,01.

Von S21 ist mir eine solche Rechnung nicht bekannt, aber wenn die Verantwortlichen selbst ein Limit von 4,5 Mrd (im Detail 3,0 Mrd + 1,5 Mrd. Risikozuschlag) gesetzt haben, könnte das ja durchaus mit solchen volkswirtschaftlichen Überlegungen zu tun haben.

Das oben bereits erwähnte und unten als Teilauszug beigefügte Gutachten vom August 2010 kommt jedenfalls eindeutig zur Empfehlung, S21 mangels Wirtschaftlichkeit nicht zu realisieren (konkret auf Seiten 152 und 153). Ich bin nicht nur deshalb inzwischen fest davon überzeugt, dass man diese gewaltigen Investitionsmittel viel effektiver für andere Schienenprojekte einsetzen könnte, z. B. für unsere oben genannten Regionallinien oder für den Ausbau der Gäubahn, Rheintalstrecke etc. Offensichtlich ist auf jeden Fall, dass dieses Geld bei diesen vielen kleineren Projekten definitiv fehlen wird, der neue Entwurf des Bundesverkehrswegeplans zeigt dies z. B. auch.

  • Ich war in den letzten Wochen nicht ganz glücklich, dass beim Protest gegen S21 die Seitenflügel des Bahnhofs und die Bäume im Schlossgarten so sehr in den Mittelpunkt rückten. Ich bin der Meinung, wenn S21 richtig gut wäre, also die hohen Kosten mit tatsächlichem verkehrspolitischen Mehrwert verbunden wären, sollten 2 Seitenflügel und 280 Bäume ein solches Projekt nicht aufhalten. Aber, wenn man nun Tatsachen schafft und hinterher die Kostenfrage doch noch zum Aus für S21 führen würde, dann wären Denkmal-  und Naturschutz in unverantwortlicher Weise beschädigt. Vor diesem Hintergrund ist die Ankündigung von heute morgen, den Südflügel des Bahnhofs und die Bäume vorläufig zu belassen, ein wichtiger Schritt auf Seiten der Projektverantwortlichen.
  • Die Chronologie der Kosten zeigt, dass alle Beschlüsse bis 2008 natürlich unter ganz anderen finanziellen Voraussetzungen erfolgt sind. Hinzu kommt, dass OB Schuster 2 x sehr fragwürdig mit dem Thema „Volksentscheid“ (auf Ebene der Stadt Stuttgart) umgegangen ist. Dazu mehr im beigefügten Artikel der „ZEIT“ vom 23.9.2010. Vor diesem Hintergrund finde ich den Bau- und Vergabestopp berechtigt, egal ob es zu einem Volksentscheid auf BW- Ebene oder zu einer parlamentarischen Aufarbeitung der oben genannten Punkte kommt. Die Behauptung, ein Ausstieg sei nicht mehr möglich oder zu teuer, ist deshalb nicht haltbar, weil alle Partner staatliche Gebietskörperschaften sind bzw. eine 100%-Tochter davon (BAHN). Da können gegenseitige Regressforderungen oder anderweitige Ausgleichs-/ Rückzahlungen kein Argument sein, sondern müssen politisch gelöst werden. Alles was bisher im Gleisvorfeld gebaut wurde, ist dagegen für jedes Szenario zu gebrauchen, nur um den Nordflügel und die ersten 25 Bäume wäre es etwas schade.
  • In der Nacht zum vergangenen Freitag 1.10.10, wo ja bekanntlich ab 1.00 Uhr nachts die ersten Bäume gefällt wurden, entschloss ich mich spontan, die Situation selbst in Augenschein zu nehmen. Zwischen 0.30 Uhr und 5.30 war es trotz erheblicher Emotionen während der Fällarbeiten weitgehend friedlich, wofür Polizei und Demonstranten gleichermaßen Lob verdienen. Was bereits nachmittags geschah, kann ich nicht beurteilen. Aber auch diese Nacht mit mehreren Tausend Beteiligten bestärkte meine Meinung, dass es Zeit für einen Baustopp wäre.

Zu den Anhängen Folgendes: es gibt verschiedene Homepages, z. B. www.kopfbahnhof-21.de etc., die natürlich nicht mehr neutral sind, wenngleich sie eine Vielzahl nachprüfbarer Informationen enthalten. Bedeutsamer sind für mich deshalb Artikel der Presse, insbesondere die „ZEIT“ halte ich als Abonnent für sehr seriös, der STERN ist reißerischer, aber zumindest auch eine neutrale und politisch nicht eindeutig zuordenbare Zeitung.

Deshalb im Anhang:

 – Gutachten im Auftrag des Umweltbundesamts vom August 2010

– Stern- Artikel Juli (verkehrspolitische Bewertung)

– Stern- Artikel 29.9.2010 (Kosten, planerische Situation)

– ZEIT- Artikel  23.9.2010  (Volksentscheid Stadt Stuttgart)

Soweit meine Sicht der Dinge. Ich weiß, dass man Vieles auch anders bewerten kann, deshalb lege ich meine Position hiermit offen, sodass ich für Rückmeldungen, Widerspruch, inhaltliche Korrekturen etc. dankbar und offen bin – zurück zur Sache eben.

Grüße von Joe Schwarz

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